Wo bleiben die Muslime?

Stellt euch eine Bühne vor, auf der jemand vor einem großen Publikum folgendes sagt: „Islamist hat einen Terroranschlag verübt und 5 Menschen getötet.“ Er entfernt sich vom Mikro. Das Publikum wird unruhig. Ein Mann steht auf und schreit „Wo bleiben denn jetzt die Muslime?!“, eine andere Dame steht auch auf und sagt zustimmend „Ja! Wo sind denn jetzt die gemäßigten Muslime?!“. Es kommt niemand. Das Publikum ist aufgebracht und wütend. Es kommt aber immer noch niemand. Das Publikum hatte für diese Show Geld bezahlt, Geld, dass sie so hart erarbeitet haben.

Mit einer solchen Szene möchte ich 2 Dinge beschreiben:

  1. Erwartungshaltung gegenüber Muslime
  2. Verantwortung von Muslimen gegenüber dieser Erwartungshaltung

Die Erwartungshaltung gegenüber Muslime, wenn im Namen ihrer Religion getötet wird, ist fast schon zur Selbstverständlichkeit geworden. „Muslime müssen sich vor Terror distanzieren!“, am besten auf Kommando und einstimmig. So in etwa ist die Forderung von sog. Islamkritikern, „vielleicht glauben wir euch dann, dass ihr friedlich seid!“, könnte man anhängen. Das ist überspitzt gesagt, doch genau darauf läuft es hinaus, wenn man ehrlich ist. „Wieso gibt es diese Erwartungshaltung gegenüber anderen Gruppen nicht?“, könnte man fragen, „Das ist Whataboutism! Im Moment geht es um Muslime!“, könnte man sagen. Beide Fragen sind legitim, aber eine davon ist an der Stelle falsch. Es ist deshalb falsch, weil hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Die Maßeinheit bei einem Muslim, der gegen das Gesetz verstößt, heißt „Terrorist„, während die Maßeinheit bei einem Nicht-Muslim, der gegen das Gesetz verstößt, „psychisch krank“ heißt. Ich frage mich, welche Wahrnehmung diese beiden Maßeinheiten auslösen sollen? Wut bei Muslimen und persönliche Betroffenheit bei Nicht-Muslimen? Wenn das der Fall ist, dann herzlichen Glückwunsch! So funktioniert nämlich die Spaltung der Gesellschaft. Ja, ich bin wütend und möchte an dieser Stelle gegen diese unsägliche Doppelmoral protestieren! Ich möchte als Muslim nicht dauernd hören müssen, dass ich mich distanzieren soll. Ich möchte als Muslim nicht in die Ecke mit diesen Halsabschneidern, Vergewaltigern, Mördern, Terroristen und Menschenhassern gestellt werden. Ich verabscheue Terroristen. Ich verabscheue Vergewaltiger. Ich verabscheue Mafia-Clans. Ich verabscheue Unterdrückung. Ich verabscheue Krieg. Ich verabscheue Gewalt. Leider ist diese Erkenntnis gegenüber Muslime nicht zu Selbstverständlichkeit geworden. „Aber diese Muslime berufen sich auf eure Religion!“.

Ja, sie berufen sich auf unsere Religion, sie schreien „Allahu Akbar“, wenn sie das Leben anderer gefährden. Was ist also die Verantwortung von Muslimen gegenüber jenen, die sich auf ihre Religion berufen? Zunächst ein Mal müssen Muslime sich eines sehr klar vor Augen halten: Der aktuelle Zustand der muslimischen Welt ist verheerend. Und es reicht nicht zu sagen „Der Westen ist schuld! Wir haben nichts damit zu tun!“. Eines der größten Probleme von Muslimen ist der Mangel an Bildung. Dieser Nachteil wird von Fanatikern und extremistischen Hasspredigern zum Vorteil gezogen. Unwissende Muslime ohne Perspektive werden radikalisiert und zu menschlichen Waffen gegen Unschuldige ausgebildet. Der Kalif der Ahmadiyya Muslim Gemeinde, Seine Heiligkeit Mirza Masroor Ahmad, hat eine weitere Komponente zu diesem Problem genannt: Armut. In seiner Grundsatzrede „Ein Vermächtnis den künftigen Generationen“ geht er auf das Thema der Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich ein. Er fügt an:

„Wir dürfen solche Not nicht als Problem anderer Menschen betrachten. Stattdessen müssen wir begreifen, dass das Ergebnis einer solchen Armut gravierende Auswirkungen auf die übrige Welt und direkte Auswirkungen auf den weltweiten Frieden und die weltweite Sicherheit hat. Die Tatsache, dass Kinder keine andere Wahl haben, als ihre Tage damit zu verbringen, Wasser für ihre Familien zu beschaffen, bedeutet, dass es ihnen unmöglich ist, eine Schule zu besuchen oder sich auch nur irgendeine Form von Bildung anzueignen. Sie sind in einem Teufelskreis aus Analphabetismus und Armut gefangen, der scheinbar endlos ist und von außerordentlichem Schaden für die Gesellschaft. Verstärkt noch werden ihre Armut und Not heutzutage durch die moderne Technik, mithilfe derer selbst Menschen, die in vom Krieg gezeichneten oder sozial benachteiligten Regionen der Welt leben, die Möglichkeit erhalten, den Komfort zu sehen, in dem die Menschen in den Industrienationen leben, ebenso wie auch die Chancen, die sich diesen bieten. Zu erkennen, wie enorm die Ungleichheit ist zwischen den eigenen Gegebenheiten und denen anderer, führt zu weiterer Unruhe unter den Einheimischen, und ebendiese Frustration nutzen Extremisten aus, die Mittellose mit finanzieller Entlohnung locken sowie dem Versprechen eines besseren Lebens für ihre Familien. Ebenso bedeutet das gezielte Ansprechen einer ungebildeten Jugend freie Hand für die Extremisten, diese zu radikalisieren und einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Die Extremisten nutzen die Tatsache, dass die Machthaber dieser Länder ihre Völker in den meisten Fällen im Stich gelassen haben.

Es gibt also Lücken, die geschlossen werden müssen. Diese Lücken werden jedoch von extremistischen Predigern durch das Anlocken von finanzieller Entlohnung oder einem „besseren Leben“ geschlossen. Und hier kommt der springende Punkt: Die Forderung „distanziert euch!“ mag vielen nicht gefallen, aber diese Forderung beinhaltet gleichzeitig eine Chance uns zu selbst hinterfragen: „Warum lasst ihr zu, dass diese Extremisten eure Leute radikalisieren? Warum schreitet ihr nicht ein? Warum erhebt ihr nicht eure Stimme? Warum verurteilt ihr nicht die Dinge, die so offensichtlich unislamisch und illegal sind?“. Deshalb ist es mit einem einfachen Lippenbekenntnis durch „Wir distanzieren uns von jeglichen Hasspredigern!“ nicht getan, während selbige unbehelligt Muslime in Hinterhofmoscheen radikalisieren. Wir Muslime müssen Verantwortung übernehmen. Wir müssen unsere Ohren und Augen schärfen: ist das, was der Prediger dort sagt überhaupt legitim? Wie reagiere ich selbst auf das, was er sagt? Bildet sich ein konkretes Feindbild in meinem Kopf? Ruft dieser Prediger und andere zur Gewalt auf? Spricht er differenziert? Geht er auf kritische Fragen ein? Erklärt er ausführlich? Oder vermittelt er bloß ein schwarz/weiß-Denken a lá „Der Westen ist an allem Schuld!“. Können wir in Deutschland Religionsfreiheit beanspruchen, während wir anderen unsere Religion aufzwingen wollen? Projiziere ich politische Probleme meines Landes auf meine Religion? Mehr Selbstkritik, statt Fremdkritik, Selbstkontrolle, statt Fremdkontrolle. Das ist – meiner Meinung nach – die Verantwortung von Muslimen gegenüber der angesprochenen Erwartungshaltung. Hier mögen sich jene angesprochen fühlen, die es bereits tun und auch jene, die es nicht tun. Das ist kein Fingerzeig, sondern ein Versuch die Dinge aus meiner Sicht darzustellen. Im „wir“ ist jeder gemeint, der sich hiervon angesprochen fühlt.

Abschließend möchte ich hierzu zum Thema „Kritik“ noch etwas sagen. Es gibt mittlerweile zu viele „Islamkritiker“, die keine konkreten Lösungsvorschläge für konkrete Probleme bieten. Kritik darf nicht zur Schuldfrage werden: „Die sind schuld!“, „Okay, welche konkreten Vorschläge haben Sie nun?“, „…“. Oft läuft es darauf hinaus, dass muslimisches Leben in der Öffentlichkeit eingeschränkt oder verboten werden soll. Forderungen nach Verboten werden auf eine vermeintliche Unterdrückung ausgetragen. Das sind keine konkreten Lösungsvorschläge. Verbote bekämpfen allenfalls Symptome, nicht die Ursachen. Wenn eine Frau Opfer einer Vergewaltigung wurde, dann war nicht ihre Kleidung schuld, sondern der Vergewaltiger. Wenn eine Frau Opfer einer Unterdrückung durch Kopftuch wurde, dann war nicht das Stück Stoff schuld, sondern der Unterdrücker. Es kann einfach sein, wenn wir Probleme gemeinsam lösen. Es kann schwierig werden, wenn wir Probleme alleine lösen wollen.

Das ist mein Appell an jene, die von Muslimen Distanzierung erwarten und an jene, die diese Distanzierung nicht als Chance erkennen. Ich bin Muslim. Vertrau mir.